100 Jahre Gottfried Biegelmeier
Der österreichische Physiker, Elektrotechniker und Erfinder Gottfried Biegelmeier gilt als Schlüsselfigur für die Weiterentwicklung und Etablierung des Fehlerstrom-Schutzschalters (RCD). In diesem Jahr wäre er 100 Jahre alt geworden – ein passender Zeitpunkt, um dem Visionär ein paar Zeilen zu widmen.
Gottfried Biegelmeier wurde am 19. Juli 1924 in Wien geboren und wuchs als Sohn eines Dachdeckers in einfachen Verhältnissen auf. In den turbulenten Zeiten des Nationalsozialismus und der ersten Jahre des Zweiten Weltkrieges erwarb er die Matura mit Ingenieursprüfung, bevor er wenige Tage nach Schulabschluss in die deutsche Wehrmacht eingezogen wurde. Die späten Kriegsjahre verbrachte Biegelmeier als Fernschreiber in Italien, wo er sich 1945 erst als Dolmetscher den Partisanen, später der britischen Armee anschloss. Nach dem Krieg studierte er an der Wiener Universität und promovierte 1949 in Experimentalphysik.
Leidenschaftlicher Entwickler
Im Januar 1950 nahm er seine Tätigkeit im Labor der Wiener Elektrizitätswerke auf, bei welchem auch seine Mitarbeit in der Normenkommission CEE begann. Nach einem kurzen Abstecher in die Elektrotechnische Versuchsanstalt ETVA arbeitete Biegelmeier bei Felten & Guillaume (F & G, heute Eaton Industries), wo er seine Karriere so richtig lancierte. In seinem Entwicklungslabor an der Wiener Heiligenstädterstrasse entstanden die ersten Patente für die Energiespeicherschaltung von FI-Schaltern. FI-Schalter oder eben RCD, wie man sie heute nennt, waren in den 1950er- und 1960er-Jahren noch wenig etabliert, nicht immer zuverlässig und hatten einen Hang zu Fehlauslösungen. Mit der Weiterentwicklung gelang es, netzspannungsunabhängige Fehlerstrom-Schutzschalter mit langer Lebensdauer zu bauen. Gottfried Biegelmeier war intensiv und federführend an der Weiterentwicklung des Fehlerstrom-Schutzschalters wie auch im Bereich der Normung tätig. Sein grosser Einsatz zahlte sich aus, denn eine neue Generation der Schutzgeräte etablierte sich rasch und durch sie erschloss sich der Österreicher auch die weite Welt der Exportgeschäfte und der Normengremien.
Legendäre Selbstversuche
Ende der 1960er-Jahre begannen die ersten Forschungen auf dem Gebiet der Elektropathologie. Allerdings blieben die Wirkungen des elektrischen Stromes auf den menschlichen Körper bis in die 1970er-Jahre hinein wenig erforscht, obwohl die Gefahren durch Unfälle längst bekannt waren und der Tod auf dem elektrischen Stuhl in den USA die zweithäufigste Hinrichtungsmethode war. Was bei einer Elektrisierung im Körper genau vor sich ging und ab welcher Stromstärke Lebensgefahr bestand, wurde Gegenstand von Biegelmeiers Forschung. Seine noch heute referierten und nicht ungefährlichen Selbstversuche lieferten wertvolle Erkenntnisse in dieser Sache. Die «Biegelmeier-Kurve», welche den Zusammenhang zwischen dem variablen Körperstrom und der Durchströmungsdauer abbildet, ist ein Resultat dieser Forschung. Sie ist und bleibt eine wichtige Grundlage für das Verständnis der Schutzmassnahmen gegen elektrischen Schlag und ist in allen Lehrmitteln, Handbüchern und Normen zu dieser Thematik abgebildet. In der NIN finden wir sie beispielsweise prominent im Unterabschnitt 1.3.1.2.
Ein Mensch mit Ecken und Kanten
Der Lebensweg von Gottfried Biegelmeier verlief nicht in allen Teilen gradlinig. Neben den herausragenden wissenschaftlichen Erfolgen, den zahlreichen Ehrungen und Titeln und der schrittweisen Etablierung der Fehlerstrom-Schutzschalter gab es auch verschiedentlich Streitigkeiten mit Zeitgenossen im beruflichen Umfeld. Er fühlte sich oft missverstanden und litt zeitlebens an Depressionen. 1980 ging seine Ehe zu Bruch. Seine Anstellung bei F & G endete im Streit. Nichtsdestotrotz gründete Biegelmeier 1983 die Gesellschaft zur Prüfung elektrotechnischer Industrieprodukte und 1996 die Wiener Stiftung Elektroschutz – und besonders wichtig: Er entwickelte FI-Schalter mit höherer Auslösezuverlässigkeit.
Am 8. Juli 2007, elf Tage vor seinem 83. Geburtstag, verstarb Gottfried Biegelmeier in Lunz am See. Was in Fachkreisen bis heute bleibt, ist die dankbare Erinnerung an eine Koryphäe der Elektrobranche. Die Aufzeichnungen seiner Selbstversuche sind legendär, und die Resultate seiner Forschungs-, Entwicklungs- und Normierungsarbeiten haben die Branche nachhaltig geprägt. Vielleicht gedenken wir bei der nächsten RCD-Prüfung kurz diesem österreichischen Erfinder und Pionier und seinen grossen Verdiensten um die Elektrosicherheit.